Gott
zu ehren ist gut;
besser
ist es, ihn zu lieben,
am allerbesten aber ist:
Ihn in sich selbst zum Leben zu erwecken.
Leo Tolstoi
Was ist Yoga?
Mystiker
überall auf der
Welt sprachen von ihrer inneren Erfahrung der Vereinigung
mit dem Selbst. Diese Wirklichkeit wird sprachlich durch
das Sanskritwort
Yoga definiert, was
soviel wie Vereinigung bedeutet und dem Wort
Religion entspricht,
welches vom lateinischen
religare (vereinigen,
verbinden) abstammt.
Die Vereinigung des Individuums mit dem Ganzen, mit dem
Kosmos, resultiert aus einem inneren Vorgang, der das
Bewusstsein des Menschen auf die höchste Realität lenkt,
auf das Selbst oder den
Gott in uns, wie C. G. Jung
es beschrieb. Dieser Vorgang erlaubt es der Aufmerksamkeit
über die Begrenzung des Ich hinauszugehen, und auch über
die Konditionierungen, die von unserer Gesellschaft,
Erziehung und Vergangenheit im Allgemeinen genährt werden.
Es ist ein innerer Prozess, der wie alles, was sich im
Universum bewegt, Energie benötigt. Diese Energie
ermöglicht dem Sucher der Wahrheit den Zugang zum inneren
Absoluten, dem Geist Gottes, weshalb man sie zu Recht
als
"spirituelle Energie" bezeichnen kann.
Die jahrtausende alte Tradition Indiens gab dieser Energie
den Namen
Kundalini.
Diese Tradition lehrt uns, dass das Erwecken der Kundalini
das höchste Stadium bedeutet, welches dem Asketen, der sich
vorher innerlich gereinigt hat, wie Buddha die völlige
Gottrealisation, das
Nirvana, schenkt. Die
Kundalini wartet aber nicht immer auf die völlige Reinigung
des Suchers um aufzusteigen. Sie folgt dem Ruf dessen, der
sich innerlich zu entwickeln wünscht und der den Weg zu
Gott finden will, und sie erwacht, um ihm die
Selbstverwirklichung zu geben, die
den Zugang zum Unendlichen ermöglicht.
Diese Erfahrung wurde von außergewöhnlichen Menschen, von
Heiligen aller religiöser Traditionen auch beschrieben,
als
unio mystica im Christentum
etwa von Franz von Assisi, Meister Eckhart oder Dante, von
Rumi und Attar im Islam, von den ersten Zen-Meistern, oder
von Namdev und Tukaram aus Indien, um nur einige
herausragende Beispiele zu nennen. Die Erfahrung der
Selbstverwirklichung wurde aber auch von berühmten
Wissenschaftern wie Pascal, Einstein und C. G. Jung
beschrieben.
Bei dieser Erfahrung erwacht die Kundalini spontan, wenn
auch nur teilweise, um dem Sucher eine erste Ahnung der
absoluten Wirklichkeit zu geben, und um ihn in das Wissen
um die eigene Göttlichkeit einzuweihen. Es liegt dann am
Sucher durch
Introspektion und
Meditation in sich selbst
günstige Bedingungen zum Aufrechterhalten und Wachsen
dieses inneren Lichtes zu schaffen. Das Erwachen der
Kundalini ist also nicht das Ende, sondern der Anfang der
Suche; es ist das Mittel, welches des Weg zur spirituellen
Verwirklichung, zur Vereinigung, zum Yoga eröffnet.
Viele Meister - und leider vor allem viele falsche Meister
- haben das Yoga gelehrt, ohne dabei zu erklären, dass es
sich um das Erwachen einer spirituellen Energie handelt.
Das hat bei der philosophischen Erörterung der
Unio mystica (lat.
mystische Vereinigung) besonders im
Westen zu einer gewissen Verwirrung geführt, da diese auf
keinerlei lebbaren und spürbaren Erfahrung zu basieren
schien. Die herausragenden spirituellen Meister, die am
Beginn großer religiöser Bewegungen standen, sprachen von
der ewig weiblichen Kraft, die uns zur Erkenntnis der
Göttlichkeit unseres Wesens führt, zumeist in Form von
Allegorien. Auf dem indischen Subkontinent ist sie
die
Kundalini, wie sie von
Shankaracharya oder Gnyaneshwara beschrieben wurde; sie ist
das
Tao des Lao-Tse,
die
Shekhina der jüdischen
Mystik und der
Heilige Geist des Neuen
Testaments.
Die Übereinstimmung dieser Begriffe mit der Muttergöttin
ist entweder wie im
Tao Te King oder in den
indischen Schriften deutlich ausgesprochen oder wie im
Neuen Testament verschleiert angedeutet. In der indischen
Schrift
Devi
Bhagavata Purana erklärt die
Große Göttin:
"Es besteht kein Unterschied zwischen mir und der
Kundalini." Die Kundalini
ist die Innere Mutter, die Reflektion der Muttergöttin in
jedem Menschen. Im
Shri Lalita Sahasranama, ein
Sanskrittext, ist einer der
tausend Namen und Attribute der Grossen Göttin
Kundalini.
"Durch
Sie kennt man das Bewusstsein
Als Form des unvergleichlichen Brahman,
Wie eine Woge der Existenz und der Freude.
Sie ist in alle Wesen eingedrungen,
Im Inneren und im Äußeren
Von jedem von ihnen, und auf jeden
Lässt Sie Ihr Licht erstrahlen."
Wenn der Mensch danach strebt, die höchste Wirklichkeit,
also die spirituelle Vereinigung mit dem Göttlichen, zu
erreichen, dann ist es gemäß dieser mystischen Traditionen
einzig und allein die Kundalini, die Energie in ihrer
höchsten und reinsten Form, die ihn an dieses Ziel bringen
kann. Die indische Überlieferung berichtet uns, dass das
Erwecken der Kundalini sehr schwierig sei und nur dem
wertvollsten Yogi nach einem dornenreichen Leben voller
Askese und Meditation gelingen könne. Aber die Zeiten haben
sich geändert, und durch die Arbeit von Shri Mataji Nirmala
Devi ist das Erwachen der Kundalini nun jedem möglich, der
es in von Herzen wünscht.
Jung,
1964.
The Devi, 1960, S. 412.
Ramakrishna, 1884.
Deutsche Übersetzung nach: Gwenael Verez, The Search for
the Divine Mother, 1997