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Jnanadeva (1275-1297 n.Chr.)

Ca. zwanzig Kilometer von Pune entfernt liegt eine idyllische kleine Ortschaft namens Alandi, wo man bei einem Aschwattabaum1 einen kleinen Tempel (Maruti Mandir) findet. Pilger, Asketen und Heilige nützen den Platz gerne zur Rast und die Dorfbewohner kümmern sich rührend um deren Bedürfnisse. In jenen vergangenen Tagen speiste häufig eine junge Frau namens Rukminibai die Pilger und Mönche. Sie war von ihrem Mann verlassen worden, hatte sich in der Folge spirituellen Übungen zugewandt und verbrachte einen Großteil ihrer Zeit meditierend und betend im Tempel.

Eines Abends verbeugte sie sich vor einem Asketen namens Ramananda2 und reichte ihm die Gnadenspeise. Der Swami3 sah das rote Zeichen der verheirateten Frau auf ihrer Stirn, sprach seinen Segen und wünschte ihr Söhne und eine erfüllte Ehe. Da liefen Tränen über die Wangen Rukminibais. Die Ironie der Situation war für sie kaum zu ertragen, kam der Segen doch von einem Sannyasin, einem Meister jener Asketen, denen sich ihr Gemahl angeschlossen hatte. Als sich Ramananda nach der Ursache ihres Kummers erkundigte, erfuhr er, dass ihr Gemahl Vithalpant sie verlassen habe um der Welt zu entsagen und sich den heiligen Männern von Benares anzuschließen. Da dämmerte es Ramananda; dass es sich bei dem Mann um einen seiner Schüler handelte, der sich Chaitanyashram nannte. Eilends erhob sich der Swami, nahm seinen Pilgerstab auf und kehrte nach Benares zurück, um den Schüler zur Rechenschaft zu ziehen. Chaitanyashram hatte die Gnade des Meisters verwirkt und so schloss ihn Ramananda aus dem Kreis seiner Schüler aus und schickte ihn zu seiner Ehefrau zurück.

So nahm der Brahmanensohn Vithalpant, den die Sehnsucht nach dem unsichtbaren göttlichen Lebenshauch fortgetrieben hatte, sein Familienleben wieder auf. Da er jedoch bereits das Gelübde der Sannyasins abgelegt hatte, nach welchem er nie wieder in die geordneten Bahnen der Ehe und in die Gemeinschaft der Kasten zurückkehren durfte, wurde er mit seiner Familie aus der Dorfgemeinschaft ausgeschlossen und musste außerhalb des Dorfes leben. Das Paar bekam rasch hintereinander vier Kinder. Der älteste Sohn wurde Nivritti genannt, der zweite Jnanadeva und der dritte Sopana. Das jüngste Kind war ein Mädchen mit dem Namen Mukti. Die Namen haben auch eine tiefe symbolische Bedeutung. Nivritti (gedankenfreies Bewusstsein oder Ablegen aller Vorstellungen) und Jnana (göttliches Wissen) sind die Sopana (göttliche Leiter) zu Mukti (vollkommene Befreiung).

Nachdem Nivritti sieben Jahre alt geworden war, sollte er gemäß dem Brauch in den Stand der Brahmanen eingeweiht werden und den heiligen Faden bekommen. Aber in Alandi wollte niemand die Kinder auch nur ansehen und die Brahmanen weigerten sich die Zeremonie für Nivritti durchzuführen. Niedergeschlagen ging Vitthalpant daraufhin mit seiner Familie auf Pilgerfahrt, um auf diese Weise seine Sünden abzubüßen und sich zu reinigen. Nahe der Stadt Nasik wurde die Familie von einem Tiger angegriffen und bei der überstürzten Flucht von Nivritti getrennt. Der Junge rannte in den Wald und suchte Zuflucht in einer Höhle. Dort traf er auf einen großen Yogi namens Gahininath, welcher den siebenjährigen Nivritti in die Tradition der Naths einweihte. Nach elf Tagen kehrte Nivritti zu seiner Familie zurück.

Der Kult des Nath-Sampradaya war in jener Zeit vor allem in Maharasthra zu finden und leitet sich von einem Urmeister,
Adi Nath genannt, ab. Die Naths folgten dem Weg der Mitte und all ihre Meister hatten ihre Selbstverwirklichung nach dem Grundsatz‚ "ein Guru – ein Schüler" erhalten. Jnanadeva, auch Jnaneshwar oder Jandeo genannt, war wohl der berühmteste Vertreter dieser Linie. Die Naths lehrten, dass der Mensch von seinen Sinnen dominiert wird und nur mit Hilfe und unter Führung eines erleuchteten Meisters, des Nath, darüber hinauswachsen kann. Die Nath-Yogis waren davon überzeugt, dass die Erleuchtung nur auf spontane (sahaje) Weise erlangt werden kann und wussten, dass das göttliche Bewusstsein nicht außerhalb des Körpers gefunden werden kann, sondern sich in der limbischen Zone des Gehirns, dem tausendblättrigen Lotus des Sahasrara, befindet. Um in diese Ebene des höchsten Bewusstseins eingehen zu können, müssen jedoch zuerst die göttlichen Aspekte in den sechs subtilen Zentren darunter erweckt werden. Dies ist wiederum nur möglich, wenn es gelingt, die am Ende der Wirbelsäule ruhende Kundalini-Energie zu erwecken. Wird diese mütterliche Kraft von einem erleuchteten Meister erweckt, steigt sie über den Sushumna-Nadi entlang der Wirbelsäule auf, durchdringt und erleuchtet die auf dieser Linie gelegenen Chakras und vereinigt sich in der limbischen Zone mit dem allumfassenden göttlichen Bewusstsein. Die Vereinigung der beiden Energien (Shiva und Shakti) lässt den Schüler in die Glückseligkeit des göttlichen Bewusstseins eintauchen und setzt ein Lebenselixier frei, welches seinen Körper verjüngt und dynamisch werden lässt.

Nivritti, nun Nivrittinath genannt, gab das göttliche Wissen über die
Kundalini an seine Geschwister weiter, wodurch die Kinder zu Autoritäten auf spirituellem Gebiet wurden. Der Makel als Kinder eines ehemaligen Sannyasis geboren worden zu sein haftete jedoch noch immer an ihnen, und so entschloss sich Vitthalpant nach Alandi zurückzukehren. Die ansässigen Brahmanen zeigten sich jedoch stur. Sie weigerten sich die Zeremonie für das Kind vorzunehmen und sagten, dass der Makel der Kinder nur durch den Tod der Eltern gesühnt werden könne. Kurzerhand begaben sich Vitthalpant und seine Gemahlin daraufhin nach Prayag, wo sie am Zusammenfluss von Ganges und Yamuna den Freitod wählten.4 Aber auch nach der Selbstopferung durch die Eltern stimmten die Brahmanen der Zeremonie nicht zu und gaben den Kindern den Rat nach Paithan, dem Zentrum der Gelehrtheit, zu gehen, um von den dortigen Pandits4 ein Empfehlungsschreiben zu erhalten.

Die Gelehrten in Paithan wollten jedoch von einer Rehabilitation ebenfalls nichts wissen und beschlossen, die Kinder aus der Gesellschaft ausschließen und in die Verbannung schicken. Am Tag des Richterspruches ließ man einen Büffel auf den Platz treiben, den man zum Spott ‚Jnana’, den Wissenden, nannte. Einer der Priester behauptete, dass Jnanadeva seinen Namen (göttliches Wissen - sprich ‚Dschnjanadeva’) zu Unrecht trage und er und seine Geschwister von nun an wie Tiere zu leben hätten. Als Jnanadeva in der Folge von der Einheit aller Namen und Lebewesen vor Gott sprach und Gerechtigkeit forderte, entfachte dies den Zorn des Priesters. Er schrie die Kinder an, dass sie die gleiche Behandlung verdienen würden wie alle anderen Kreaturen, nahm eine Peitsche zur Hand und hieb wütend auf den Rücken des Büffels ein. Dabei spottete er Jnanadeva und fragte, ob denn der Büffel etwa die heiligen
Veden vortragen könne. Zur Überraschung aller Anwesenden hinterließ jeder Schlag, der den Rücken des Büffels traf, gleichzeitig Striemen auf der Haut des siebenjährigen Jungen. Erstaunt blickten die Pandits5 auf, da öffnete der Büffel sein Maul und zitierte mit menschlicher Stimme laut vernehmlich einen heiligen Vers aus den Veden. Wie vom Donner getroffen warfen sich die Brahmanen vor dem Jungen in den Staub und als die Kinder nach Alandi zurückkehrten, hatte der Bericht über das Wunder die Stadt bereits erreicht. Bereitwillig vollzogen die Brahmanen nun die gewünschte Zeremonie.

Im Alter von 22 Jahren nahm
Jnanadava in Alandi, nahe Puna, sein Samadhi. Das bedeutet, dass er willentlich seinen Körper aufgab, um mit dem Höchsten Absoluten zu verschmelzen. Obwohl er nur 22 Jahre gelebt hatte, stellen die von ihm hinterlassenen Werke ein Zeugnis seiner Größe dar. Bereits im zarten Alter von fünfzehn Jahren übersetzte Jnanadeva die Bhagavad Gita6 auf Marathi und schrieb dazu einen Kommentar, welchen er Bhavartha-Dipika (‚das Licht der einfachen Erklärung’) nannte. Das Werk wurde später unter dem Namen ‚Jnaneshvari’ bekannt und enthält annähernd 9000 Verse im Ovi-Versmaß. Es ist sehr poetisch geschrieben und weicht im Stil von den Kommentaren Shankaras7 zur Bhagavad Gita ab. Jnanadeva erklärt ganz klar die Wirkungsweise des göttlichen Mechanismus und offenbart, dass die göttliche Energie, strahlend wie ein Feuerrad, am Ende der Wirbelsäule ruht. In der Jnaneschwari, Kap. 7, 14-15 heißt es: „Die Göttin Kundalini ist wie die Mutter des gesamten Universums und gleichzeitig die Pracht der höchsten Majestät der Seele. Wird sie erweckt, steigt sie über den mittleren Kanal, Sushumna genannt, auf und durchdringt das Brahmarandra (Fontanelle), wo das reine Sein residiert.“

Jnanadeva beschreibt den Aufstieg der
Kundalini durch die Chakras, welche im grobstofflichen Körper den aus Nerven und Ganglien geformten Plexen entsprechen. In der Jnaneshwari Kap. 6, 14-15 finden wir folgenden Text: „Die Kundalini bewahrt ihre Kraft bis Sie vom höchsten Brahman absorbiert wird, indem Sie sich im Brahmarandhra etabliert und das Höchste Absolute umarmt… . So wie das Wasser des Ozeans gereinigt wird, wenn es aufsteigt, Wolken bildet und als Regen auf die Erde niederfällt um sich in Flüssen zu sammeln und mit dem Meer wieder zu vereinigen, so wird auch die individuelle Seele mit Hilfe der menschlichen Form wieder in das Göttliche eintreten und sich mit ihm vereinigen….“ und weiter: „Der Lebenswind, welcher aus der Kundalini hervorkommt, schafft außen und innen eine kühle Empfindung im Körper.“

Es scheint als habe Jnanadeva das geheime Wissen über die
Kundalini ganz im Sinne der Nath-Tradition nur engen Vertrauten weitergegeben. Viel Zeit sollte noch vergehen, bis die Erfahrung des kühlen Lebenswindes für jeden möglich sein sollte. Dazu bedurfte es des Kommens einer großen Yogameisterin namens Shri Mataji Nirmala Devi, deren einzigartiges Sahaja-Yoga System es für jedermann möglich macht, den Zustand seiner Chakras auf den Fingern zu fühlen und die Erfahrung der von Jnanadeva als ‚kühlender Lebenswind’ bezeichnet Vibrationen selbst zu erleben.

Ein weiteres Werk Jnanadevas ist die Amritanubhava, der ‚Nektar der göttlichen Erfahrung’. Das wundervolle Buch erklärt im Detail die Einheit von
Shiva und Shakti. Jnanadeva führt die Entstehung der Welt auf die höchste Wirklichkeit, Shiva genannt, zurück. Die Erschaffung der Welt und ihrer Myriaden von Gestalten und Formen einschließlich des Menschen wird durch Shakti, die Manifestation seiner Kraft, vollbracht. Der Mensch ist mit der Fähigkeit ausgestattet, diese göttliche Einheit zu erfahren und sich daran zu erfreuen. Tatsächlich sind Shiva, das statische Prinzip und Shakti, das dynamische Prinzip, sowie die von ihnen erschaffene Welt nicht voneinander getrennt, wie sie scheinen. Sie sind ein und dasselbe und so heißt es in den Schriften: „Sowohl Shiva als auch seine geliebte Shakti leben als glückliches Paar. Shakti ist verlegen, wenn sie sich mit ihrem formlosen Gemahl bewegt und bedeckt Ihn mit der vielfarbigen Robe des Universums…“

Jnanadeva wollte nicht länger vom Göttlichen getrennt sein und so gab er schließlich sein Ego auf und verschmolz mit
Shiva und Shakti, die immerzu eine Einheit bilden. Um dies für die Menschen verständlich zu machen, erklärt er seine Erfahrung: „Die individuelle Seele des Menschen ist in Wirklichkeit Brahma, das universelle Selbst. Obwohl das Selbst frei von Geburten und Toden ist, leidet der Mensch infolge der Unwissenheit über seine wahre Natur. Er identifiziert sich mit dem Körper und stellt sich vor, dass er geboren wurde und wieder sterben muss, obwohl es in Wirklichkeit es nur der Körper ist, der geboren wird und stirbt.“

Die intuitive Erfahrung dieser Tatsache wird ‚Selbsterkenntnis’ oder ‚Selbstverwirklichung’ genannt. Dabei handelt es sich jedoch nicht um einen Bewusstseinszustand, wo man das Selbst von sich getrennt wahrnimmt. Das ‚Selbst’, die eigene höhere Natur, ist der Erkennende. Wer sollte also den Erkennenden erkennen? Selbsterkenntnis bedeutet ‚zum Selbst zu werden’ und nicht das Selbst als ein von sich getrenntes Objekt wahrzunehmen. Durch seinen
Brahma-Aspekt wird Gott zur sichtbaren Welt und gleichzeitig ist es Er selbst, der sie sieht und sich an ihr erfreut. Die Einheit wird dadurch nicht im Geringsten gestört, vergleichbar mit dem Gesicht, das durch seine Reflexion im Spiegel nicht beunruhigt wird.

In der Amritanubhava, Kap. 1, heißt es: „So wie das Wasser mit sich selbst spielt, indem es die Form von Wellen annimmt, spielt das Höchste Absolute mit sich selbst, indem die Form der Welt annimmt. Die Sonne ist von ihren Strahlen nicht getrennt und auch der Lotus bildet eine Einheit, selbst wenn er mit tausend Blütenblättern aufblüht.“ Ähnlich dazu besteht keine Trennung im Höchsten Absoluten, egal ob es sich nun als der Sehende (Erkennende) oder als das Gesehene (die Welt) präsentiert.

Jnanadeva riet dazu, die Sinnesorgane einer gewissen Disziplin zu unterwerfen, aber nicht sie zu ruinieren. Seine Lehre ist eine Lehre der Mäßigung und Enthaltsamkeit. „Es bringt nichts die Freuden dieser Welt in der falschen Erwartung abzulehnen, es dadurch im nächsten Leben besser zu haben“, sagte er. In der
Jnaneshwari (Vers 20) spricht der Heilige mit folgenden Worten zu einem Asketen: „Der ist ein wirklicher Sannyasin, der ‚Ich’ und ‚mein’ vollkommen vergessen hat!“ Was aufgegeben werden muss, ist das „Ego“! Wenn das Feuer erschöpft und zu kalter Asche geworden ist, besteht nicht die geringste Möglichkeit dass ein Stück Baumwolle Feuer fangen wird. So kann auch ein Mensch, ist er erst einmal wirklich losgelöst, von einer verführerischen Umwelt umgeben sein, ohne dass diese eine Wirkung auf ihn ausübt. Er kann verheiratet sein, ein Haus besitzen, eine große Familie haben und innerlich dennoch ein Weltentsagender sein. Der Spruch, dass unser Karma uns an die Welt bindet ist nur die halbe Wahrheit. Hat man das erst einmal richtig verstanden, wird das Karma zu einem Instrument der Befreiung. Kann nicht auch Gift in der Medizin Leben retten, wenn es richtig angewendet wird? Und genauso wie Nahrungsmittel nähren, können sie auch zu Krankheit führen, wenn man zu viel davon in sich hinein stopft.

Als Yogi war Jnanadeva bewusst, welchen Schwierigkeiten gewöhnliche Menschen in ihrer Yoga-Praxis und Meditation gegenüber stehen. Er empfahl den Pfad der Hingabe (
Bhakti) und verbrachte sein kurzes Leben damit Bhakti zu predigen. Er sagte zum Beispiel: „Das Singen von Lobeshymnen auf Gott heilt das Elend dieser Welt und lässt sie vom reinsten Segen des Selbst widerhallen.“ Jnanadeva unterschied nicht zwischen dem Pfad des Karma-Yoga (Pflichterfüllung), Bhakti-Yoga (Hingabe) und Jnana-Yoga (Wissen/Erkenntnis). Für ihn waren sie nur drei Stufen auf demselben Weg. Er empfahl sowohl die Verehrung von Hari (Shri Vishnu, der Gott der Vishnuiten) als auch von Hara (Shri Shiva, der Gott der Shivaiten) und führte damit die Tradition des Advaita8, die Anschauung der Shivaiten9, das Yoga der Naths und die Bhakti-Tradition10 zusammen. Während er jemanden als Buße eine Pilgerfahrt riet, sagte er: „Du kannst Hara oder Hari wählen, wen immer du liebst (Dn 17-200).“ Obwohl selbst ein Anhänger der Naths, deren Gründer Adi-Nath, d.h. Shri Shiva war, wählte Jnanadeva die Bhagavad Gita, das Werk Shri Vishnus, um sein Evangelium der immer währenden Glückseligkeit zu verbreiten. Jnanadeva predigte die Verehrung beider Götter, um die Einheit von Gott zu zeigen. Er sagte: „Kommt der Docht einer Lampe mit einer Flamme in Kontakt, wird er selbst zur Flamme, zur Quelle des Lichts für andere Flammen und es kein Unterschied mehr zwischen dem Licht und der Flamme. Durch die Gnade meines Gurus wurde ich, ein begrenztes Wesen zu einem unendlichen Wesen.“

Jnanadeva behauptete weiters, dass der individuelle Nutzen nicht festgestellt werden kann ohne gleichzeitig den Nutzen für die Gesamtheit festzustellen, da der Mensch nicht als einzelnes von der Gesellschaft getrenntes Wesen gesehen werden kann. Aus diesem Grund betonte Jnanadeva die Wichtigkeit der sozialen Pflichten. Obwohl selbst Junggeselle und Yogi auf einer sehr hohen Stufe, ehrte er das Familienleben und im Besonderen jenes der keuschen Ehefrau. Er sagte: „Die treue, keusche Ehefrau, welche ihre familiären Pflichten in Freud und Leid erfüllt, übt wahre Buße und gewinnt die gleichen karmischen Verdienste wie ein Asket.“ (Dn. 18-908)

Jnanadeva vertrat die Ansicht, dass die Angehörigen der verschiedenen Gesellschaftsschichten (Kasten) gleich zu bewerten seien, solange sie die Erfüllung ihrer Pflicht als Dienst an Gott betrachten. Beide gehorchen Gott auf ihre Weise und ernten daher den gleichen Segen. Auch in einer Maschine kann die kleinste Schraube genau so wichtig sein, wie andere, größere Teile. Ähnlich hat auch in einer Gesellschaft das kleinste Glied eine Funktion und daher auch seinen Platz. Erfüllt man seine Pflicht auf diese Weise ohne sich in seine Handlungen zu involvieren und als Handelnder zu fühlen, wird man zum
Jivan-Mukta, d.h. man erreicht den Zustand der Befreiung noch zu Lebzeiten.

Aus dem Buch „Realised Saints“ von Yogi Mahajan
Übersetzung Siegi H.

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1 Ashwatta Baum: Symbol für die kosmische Existenz
2 Ramanand: Ein großer Heiliger des 13. Jh. Er war der erste, der die Bhakti-Bewegung in Nordindien zum Leben erweckte, welche als Reaktion auf die politische Eroberung Indiens durch die Muslime entstand.
3 Swami: skrt. wörtl.: ‚Herr’, Ehrentitel eines spirituellen Lehrers oder als heilig verehrten Mannes.
4 wie andere Religionen, verbietet auch der Hinduismus den Suizid um sich aus dem materiellen Leben zu stehlen. Die Schriften nennen jedoch auch einige Ausnahmen, z.B. werden vier Arten des Sterbens in Prayag beschrieben, wodurch die Befreiung erlangt werden soll.
5 Pandit: skrt. wörtl.: ‚Gelehrter’; ein Gelehrter oder Wissenschaftler, der die heiligen Schriften intellektuell als Wissenschaft studiert und auslegt, an der Verwirklichung ihrer Wahrheiten aber selten interessiert ist. Den Rishis wurden die Wahrheiten offenbart, die Pandits haben sie ausgedeutet und verbreitet. Im Hinduismus haben die haarspalterischen Argumentationen der Pandits seltsame Blüten getrieben.
6 Bhagavad Gita: skrt. wörtl.: ‚Gesang des Erhabenen’; philosophisches Lehrgedicht, das als ‚Evangelium’ des Hinduismug gilt.
7 Shankara: Shankara: Auch Shankaracharya (788-820); einer der größten Heiligen und Philosophen Indiens. Shankara war der Hauptvertreter des Advaita-Vedanta8 und der Erneuerer des Hinduismus, nachdem dieser zeitweise vom Buddhismus verdrängt worden war. Shankara wurde in Kaladi an der Malabarküste geboren und starb in Kedarnath im Himalaja im Alter von 32 Jahren. Mit acht Jahren entsagte er der Welt und wanderte durch ganz Indien. Sein Wissen und seine Heiligkeit waren so groß, dass man ihn als eine Inkarnation Shri Shivas betrachtete, daher sein Name (der ‚heilbringend’ bedeutet und ein Beiname Shri Shivas ist). Er gründete zahlreiche Klöster, war zugleich Philosoph und Dichter, Gelehrter und Heiliger, Mystiker und Reformator.
8 Advaita Vedanta: Unpersönliche Gotteslehre; eines der drei Denksysteme des Vedanta, dessen wichtigster Vertreter Shankara ist. Der Advaita-Vedanta lehrt, dass die gesamte Erscheinungswelt, die Seele und Gott identisch ist. So wie die moderne Physik bei der Untersuchung der subatomaren Teile herausfand, dass Materie aus ständig in Bewegung befindlichen Kraftfeldern von Energie besteht, so erkannten die Weisen (Rishis) des Advaita, dass die Wirklichkeit aus Energie in Form von Bewusstsein (Chitta) besteht und der Mensch durch ego-bedingte Körperidentifizierung mit grobstofflichen Sinnesorganen ein grobstoffliches Universum wahrnimmt. Etwas Wirkliches, Unveränderliches wird vom Denken überdeckt (Vikshepa) mit der Vorstellung einer sich ständig verändernden Erscheinungswelt aus Namen und Formen (Namarupa).:
9 Shivaismus: Verehrung Shri Shivas; eine der drei großen Richtungen der Gottesverehrung im modernen Hinduismus. Die beiden anderen sind Vishnuismus (Verehrung Shri Visnus) und Shaktismus (Shakti-Verehrung).
10 Bhakti: skrt. ‚Liebe zu Gott, Hingabe an den Guru und das erwählte Ideal’. Im Gegensatz zur philosophischen Richtung der Advaita Vedanta, führt bei Bhakti-Marga der Weg zur Erlösung über die liebende Hingabe und Anbetung eines persönlichen Gottes.