"Als tiefes
Schweigen das All umfing und die Nacht bis zur Mitte gelangt
war,
Da sprang dein allmächtiges Wort vom Himmel, vom königlichen Thron
herab
Als harter Krieger mitten in das dem Verderben geweihte Land.
Es trug das scharfe Schwert deines unerbittlichen Befehls,
Trat hin und erfüllte alles mit Tod;
Es berührte den Himmel und stand auf der
Erde."
Die Weisheit ist ewig, allgegenwärtig
und das höchste Ziel der Verehrung:
"Alles
Verborgene und alles Offenbare habe ich erkannt;
Denn es lehrte mich die Weisheit, die Meisterin aller Dinge.
In ihr ist ein Geist, gedankenvoll, heilig, einzigartig,
mannigfaltig, zart, beweglich,
Durchdringend, unbefleckt, klar, unverletzlich, das Gute, liebend,
scharf,
Nicht zu hemmen, wohltätig, menschenfreundlich,
Fest, sicher, ohne Sorge, alles vermögend, alles überwachend und
alle Geister durchdringend,
Die denkenden, reinen und zartesten.
Denn die Weisheit ist beweglicher als alle Bewegung;
In ihrer Reinheit durchdringt und erfüllt sie
alles.
Sie
ist ein Hauch der Kraft Gottes
Und reiner
Ausfluss der Herrlichkeit des Allherschers;
Darum fällt kein Schatten auf sie.
Sie ist der Widerschein des ewigen Lichts,
Der ungetrübte Spiegel von Gottes Kraft,
Das Bild seiner Vollkommenheit.
Sie ist nur eine und vermag doch alles;
Ohne sich zu verändern, erneuert sie alles.
Von Geschlecht zu Geschlecht tritt sie in heilige Seelen ein
Und Schafft Freunde Gottes und Propheten;
Denn Gott liebt nur den, der mit der Weisheit zusammenwohnt.
Sie ist schöner als die Sonne und überstrahlt jedes
Sternbild.
Sie ist strahlender als das Licht; denn diesem folgt die
Nacht,
Doch über die Weisheit siegt keine Schlechtigkeit.
Machtvoll entfaltet sie ihre Kraft von einem Ende zum andern
Und durchwaltet voll Güte das All."
Die Sophia gibt dem Gerechten die ewige
Befreiung, indem sie ihn von der Sünde erlöst und seine eigene
Göttlichkeit erkennen lässt.
"Einen
Gerechten, der verkauft worden war, lässt sie nicht im Stich,
Sondern bewahrte ihn vor der Sünde.
Sie stieg mit ihm in den Kerker hinab
Und verließ ihn während seiner Gefangenschaft nicht,
Bis sie ihm das königliche Zepter brachte …
Und [sie] verlieh ihm ewigen Ruhm."
"Die Weisheit aber rettete ihre Diener aus jeglicher Mühsal.
Einen Gerechten, der vor dem Zorn des Bruders floh,
Geleitete sie auf geraden Wegen, zeigte ihm das Reich Gottes
Und enthüllte ihm heilige Geheimnisse."
Es ist die Weisheit, die Moses
inspiriert und seine Wunder vollbringt:
"Sie hat ein
heiliges Volk, ein untadeliges Geschlecht,
Aus der Gewalt einer Nation gerettet, die es unterdrückte.
Sie ging in die Seele eines Dieners des Herrn ein
Und widerstand schrecklichen Königen durch Zeichen und
Wunder.
Sie gab den Heiligen den Lohn ihrer Mühen und geleitete sie auf
wunderbarem Weg.
Sie wurde ihnen am Tag zum Schutz und in der Nacht zum
Sternenlicht.
Sie führte sie durch das Rote Meer und geleitete sie durch
gewaltige Wasser.
Ihre Feinde aber ließ sie in der Flut
ertrinken."
Gottvater
und Sophia, Michelangelo, Sixtinische Kapelle
Philon von Alexandrien, der große
jüdische Mystiker griechischer Abstammung im ersten Jahrhundert
christlicher Zeitrechnung war einer der ersten, der die Sophia mit
dem Archetypus der weiblichen und mütterlichen Göttlichkeit in
Zusammenhang brachte: "So werden wir den Meister, welcher unser
Weltall erschaffen hat, mit Recht zugleich auch als Vater des
Erschaffenen bezeichnen, als Mutter aber das Wissen
[‘Episteme‘, bei Philo identisch mit Sophia] des
Erzeugers." Trotzdem
wurden Sophia weder im Judentum noch im Christentum ein Kult oder
eine besondere Verehrung gewidmet. Es blieb Michelangelo
vorbehalten, in einem Fresko in der Sixtinischen Kapelle die
Weisheit beim Schöpfungsakt an der Seite von Gottvater
darzustellen.
In den Anfängen des Christentums war die Bedeutung von Sophia als
Weisheit, der Gegenstand vieler Kontroversen. Im zweiten
Jahrhundert entwickelten die Gnostiker komplexe Mythologien der
Sophia, aber diese wurden von den Hauptströmungen der Kirche
abgelehnt. Die meisten frühen christlichen Autoren folgten Philo
von Alexandrien und setzten Sophia mit dem Logos gleich und im
Sinne des Neuen Testamentes mit dem Göttlichen in Jesus Christus.
In der Folge verschwand das antike Verständnis von Sophia als einer
Manifestation des Göttlichen Weiblichen für fast tausend Jahre,
auch wenn neuzeitliche Gelehrte das Thema der Weisheit in den
Visionen einer Reihe von Mystikern aufspürten: in den Schriften des
römischen Philosoph des sechsten Jahrhunderts Boethius; in den
außergewöhnlichen Visionen der deutschen Nonne Hildegard of Bingen
(1098-1179), ein Echo der Visionen des Boethius, in den Visionen
von Nizam des spanischen Sufi Ibn al-Arabi (1165-1240) und des
italienischen Dichters Dante Alighieri (1265-1321) und seiner Muse
Beatrice in der Göttlichen Komödie.
Insbesondere jedoch in den Schriften des deutschen Philosophen und
protestantischen Mystikers Jakob Boehme (1575-1624) finden sich die
Anfänge eines modernen Verständnisses von Sophia. Boehme bezog sich
auf frühere jüdisch-kabbalistische und hermetisch-mystische
Traditionen und schöpfte aus seiner eigenen Kontemplation und
Introspektion, durch die er eine einzigartige und komplexe
theologische Synthese entwickelte. Seine Bilder von Sophia stellen
sie als die ewige Reflexion des Göttlichen dar, und erinnern
wiederum an die Vorstellung der jüdischen Shekhinah, die Gegenwart
Göttes in der kabbalistischen Tradition. Seine Vorstellung von den
sieben "Quellgeistern", die das materielle Gegenstück zur Jungfrau
Sophia darstellen, findet auch Parallelen in den Ideen seines
Vorläufers, dem Alchemisten Paracelsus (1490-1541).
Im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert finden sich die Spuren
der Sophia in den Schriften der Mystiker John Pordage (1607-1683)
und der Jane Lead (1623-1704), bei den Theologen und Mystikern
Johann Georg Gichtel (1638-1710) and Gottfried Arnold (1666-1714),
die sich auf den Einfluss Jakob Boehmes zurückführen lassen. Deren
Zeitgenossen und spätere Gelehrte nahmen an, dass sie Schüler oder
Anhänger Boehmes waren. Dies könnte aber auch auf einem
Missverständnis beruhen. Vielmehr kann man diese Mystiker auch als
'verwandte Seelen' verstehen, deren Einsichten und Erkenntnisse
ungeachtet aller Ähnlichkeit dennoch auf deren ureigener
individueller Einsicht und Kontemplation beruhten. Der
amerikanische Historiker Arthur Versluis beschrieb diese Tradition
in Folge Boehmes als die protestantische theosophische Tradition
(welche allerdings nicht mit der Theosophischen Gesellschaft des
späten neunzehnten Jahrhunderts zu verwechseln ist.)
Im späten achtzehnten Jahrhundert beeinflusste Sophia in der
theosophischen Tradition Boehmes weiterhin Philosophen und
Theologen. In den 1780er- Jahren lernte der französische Philosoph
Louis-Claude de Saint-Martin (1743-1803) das Werk Boehmes kennen,
was sich an Saint-Martins späteren Werken, insbesondere in
Le Ministere
de l’Homme-esprit (1802) zeigt. In Deutschland fand die
Boehmesche Vorstellung der Sophia als Göttliche Weisheit gemeinsam
mit christlich-kabbalistischen Ideen und den Anfängen der
Naturphilosophie in den Werken Friedrich Christoph Oetingers
(1702-1782) Ausdruck und in den Werken der deutschen Romantiker
Novalis und Hölderlin. Der schweizer Visionär Johann Jacob Wirz
(1778-1858) hatte 1823 Visionen von Sophia als göttliche Weisheit
welche die Grundlagen der Gemeinschaft der Nazarener bildeten.
Wirzes posthum veröffentlichte Schriften und dessen Geschichten und
Parabeln wurden mit den visionären Schriften der Sufis verglichen.
Der russische Philosoph Vladimir Soloviev (1853-1900) und dessen
Visionen der Sophia, die Bilder und Schriften des russischen
Künstlers Nicholas Roerich setzen die Tradition der Sophia bis ins
zwanzigste Jahrhundert fort.
Sophia und
ihre Töchter, Glaube, Hoffnung, Liebe, russische
Ikone
3. Shekhina -
die Göttin in der jüdischen Mystik
Angesichts dieser
offensichtlichen Beschränkung des Göttlichen auf seinen männlichen
Aspekt entwickelten die jüdischen Mystiker einen weiblichen
Gegenpart zu Yahwe und die Shekhina nimmt einen bedeutenden Platz
in der hebräischen Mystik ein. Sie tritt zum ersten Mal in einer
aramäischen Erläuterung des Alten Testaments auf, dem Targum
Omkelos, das aus den Anfangszeiten der christlichen Ära stammen
soll, dessen Quellen aber sicherlich viel älter
sind.
Das Targum Omkelos erweitert den
biblischen Text, indem es jede Manifestation der Gegenwart Gottes
als "Shekhina" bezeichnet. Hier ist es nicht mehr Yahwe, der in
seiner Schöpfung allgegenwärtig ist, sondern Gott der Vater wirkt
im Kosmos durch die von ihm gesandte Shekhina. So wird die
Textstelle: "Ich wohne unter den Kindern Israels." zu: "Ich schicke
meine Gegenwart, um bei den Kindern Israels zu wohnen." Diese
Interpretation dürfte ihren Ursprung in der mündlichen
Überlieferung der Lehren Mose haben.
In der jüdischen Mystik wurde der
Begriff der "Shekhina" bis zum 16. Jahrhundert n. Chr. entwickelt.
Vor allem in der Kabbala gibt es zahlreiche Beschreibungen, die sie
in allen Punkten an den Archetypus des Ewigweiblichen annähern. Die
Shekhina ist die authentische weibliche Gottheit, die auf ewig
jungfräulich ist. Sie steht jenseits der verschiedenen Begriffe wie
Weisheit oder Güte. Das Judentum spricht von den "Flügeln der
Shekhina", unter denen ihre Anhänger Zuflucht und Schutz finden,
vom "Gesicht der Shekhina", dem Objekt der Bewunderung und von den
"Füßen der Shekhina", die das Böse und alle negativen Kräfte in
Grund und Boden stampfen. Darüber hinaus verfügt die Shekhina über
eine eigene Persönlichkeit, über einen eigenen Willen, der sich
sogar dem Willen des Gottvaters widersetzen und diesen beeinflussen
kann. Wie die Sophia wird auch sie als die seit dem Beginn der
Schöpfung wirkende Urkraft Gottes
bezeichnet:
"Als es in Gottes Gedanken aufstieg,
eine Welt zu erschaffen, da schuf er als erste aller Schöpfungen
den Heiligen Geist, der auch die Glorie unseres Gottes heißt. Dies
ist ein strahlender Glanz und ein großes Licht, das auf alle seine
anderen Kreaturen ausstrahlt. … Und die Weisen nennen dieses
große Licht Schechina [sic!]."
Der wichtigste
mystische Aspekt der Shekhina, oder "Schechina", ist ihre erlösende
Kraft, die zur spirituellen Befreiung des Menschen führt: "Die
Merkaba-Welt [d.h. die himmlische Welt, das Paradies] ist der Ort
seiner [Gottes] vor den Menschen verborgenen Shekhina in der
höchsten Höhe. Statt vom ‘Thron der Herrlichkeit‘ wie
es im Talmud heißt, wird in diesen Schriften vom ‘Thron der
Schechina‘ gesprochen. Die verborgene Schechina ist es eben,
die in der höchsten Vision den Eingeweihten dort erscheint." Wie
der Heilige Geist in den gnostischen Texten, gilt auch die Shekhina
das essentielle weibliche Element des "Hieros gamos" (griechisch:
heilige Ehe). Im Zohar nennt sich die Shekhina "Mutter", wenn sie
sich im Zustand der Vereinigung mit Gottvater befindet, im Zustand
der Trennung bezeichnet sie sich hingegen als "Gattin": "Solange
sie im Hause des Königs wohnte, hieß sie ‘Mutter‘,
insofern sie ihre Kinder im ungehemmten Strom der Emanation von
oben ernährte, aber jetzt, das sie im Exil ist, heißt sie nur noch
die ‘Frau deines Vaters‘."
Rabbi Shemuel
bar Nahman schrieb im dritten Jahrhundert, dass die Qualität des
Vaters seinen Kindern gegenüber die Barmherzigkeit sei, jene der
Mutter die Unterstützung, die Stärkung und der Trost. Und er fügte
hinzu: "Gott hat gesagt: Ich werde es wie ein Vater und wie eine
Mutter machen."
Die Shekhina
repräsentiert den mütterlichen Aspekt des Göttlichen. Sie stellt
außerdem, wie es das Bild der Sophia in der Bibel oder der Großen
Göttin in den indischen Schriften nahe legen, die strafende Kraft
Gottes dar. Diesem Aspekt kam im Mittelalter große Bedeutung zu,
als die Shekhina mit dem Erscheinen der Kabbala eine zentrale Rolle
im religiösen Bewusstsein der Juden einnahm. Tatsächlich aber hatte
die Shekhina die Attribute der Astarte, der Muttergöttin des
Altertums, übernommen.
Übersetzt und adaptiert
nach Gwenael Verez, The Search for the Divine Mother, 1997
und John
Noyce Sophia von S.J.