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Nicolas Roehrich, Sophia, the Wisdom of the Almighty. 1932

Die Große Göttin der Antike und des Abendlandes
Anahita, Sophia, Shekhina

Die ganze Antike hindurch bestand ein Gleichgewicht zwischen dem Kult der Muttergöttin einerseits und der Verehrung des göttlichen Vaters andererseits. Die Große Göttin, die bereits seit der Urzeit verehrt worden war, behielt ihre Anhänger und wurde von einer großen Mehrheit der Bevölkerung anerkannt und verehrt, während auch neue männliche Gottheiten, insbesondere durch arische und semitische Einwanderungen entstehende Kulte um männliche Götter neue Bedeutung erlangten. Die Griechen, Römer, Ägypter und Kelten huldigten alle der Großen Göttin, deren Kult alle anderen Formen der Frömmigkeit dominierte, auch wenn Gott der Vater künftig an der Spitze des religiösen Pantheons stand.

Diese unbewusste Suche nach einem religiösen Gleichgewicht findet sich nicht nur in der Bibel, wo der Sophia (griechisch: Weisheit) ein wichtiger Platz eingeräumt wurde, sondern auch im kollektiven Gedächtnis des jüdischen Volkes über die Verehrung König Salomons für Asherah, die Große Göttin. Diese Suche nach einem Gleichgewicht konnte sich dank erleuchteter Herrscher wie Kyros dem Älteren, Alexander dem Großen oder König Salomon etablieren. Diese lehnten religiöse Intoleranz aus der Erkenntnis heraus ab, dass die Göttin im Herzen des Menschen thront und ihre Verehrung somit der höchste Ausdruck göttlicher Andacht ist.

Trotz der Vielfalt ihrer Darstellungen und ihren unterschiedlichen Namen hatten die Göttinnen der Antike gemeinsame Merkmale. Während des gesamten Altertums war die Göttin zugleich Jungfrau und Mutter, und sie war es auch, welche die Wiedergeburt der Seele gewährte. Diese drei Attribute wurden später für die Jungfrau Maria vollständig übernommen. Die indischen Göttinnen Durga und Kali, aber auch die griechische Pallas Athene, galten zudem als oberste und unbesiegbare Kriegerinnen und Zerstörerinnen. Dieser Aspekt hatte jedoch nichts mit den patriarchalischen Eroberungskriegen zu tun, wie oft fälschlicherweise vermutet wurde. Es handelte sich vielmehr darum, die siegreich-befreiende Kraft der Göttin gegen alle Kräfte des Bösen darzustellen.


1. Anahita, Anat, Anu - der Atem Gottes

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Anahita

In den verschiedenen Namen der großen Göttin findet sich häufig die Silbe "an". Diese etymologische Wurzel bedeutete in indoeuropäischen Sprachen "Hauch". Aus ihr entwickelte sich das griechische Wort "Anemos" für Wind, ebenso wie die lateinischen Wörter "Animus" für den Geist und "Anima" für die Seele. Die Völker jener Zeit waren sich dessen bewusst, dass sowohl die geistige Wiedergeburt als auch der heilige Hauch von der großen Göttin abhängt, das bezeugen die Namen der Göttin, wie Anahita in Persien, Anu bei den Kelten, Anat in Syrien oder Inanna bei den Sumerern. Der Begriff des "Atems Gottes" sollte in der christlichen Tradition für den Heiligen Geist wieder aufgegriffen werden.

Die Göttinnen der Antike wurden oft mit einer Vase in ihren Händen dargestellt. Dies war unter anderem bei Ishtar, bei Kybele und der keltischen Göttin Cerridwen der Fall. In China wird die Göttin Quan-In noch heute mit der heiligen Vase in ihren Händen verehrt. Diese Vase hat eine wichtige symbolische Bedeutung, denn ihr Inhalt ist das "Wasser des Lebens", der Jungbrunnen, dem man geistig und spirituell gereinigt, als "neuer Mensch" entsteigt. Auf der Ebene des Unbewussten vermittelt dieses Bild daher die Botschaft, dass die Göttin die Kraft hat, Ewigkeit und Gnade zu schenken, wenn Sie den Inhalt dieses Gefäßes über ihre frommen Verehrer ausgießt. In Indien ist die Khumba (ein kleines Gefäß, das bei religiösen Zeremonien verwendet wird) ein Symbol, um die Kundalini darzustellen. Das heilige Gefäß symbolisiert somit das Kreuzbein am Ende der Wirbelsäule, in welchem sich diese mütterliche Kraft der Liebe Gottes befindet. Dieses innere Gefäß enthält das Wasser des ewigen Lebens.

Babylon wurde von einem König zerstört, der neben Alexander dem Großen einer der größten Herrscher der Antike war: der Perser Kyros. Er war ein erleuchteter Herrscher, tolerant und friedensstiftend, und seine Politik war von Gerechtigkeit, wie sie Zarathustra gelehrt hatte, beseelt. In Persien wurde die Große Göttin unter dem Namen Anahita verehrt. Ein ganzes Kapitel der Advestas, den von Zarathustra inspirierten Schriften über Ahura Mazda, war ihrer Verehrung gewidmet. Im mazdäischen Pantheon nahm sie den Platz neben dem Vater Ahura Mazda und dem Sohn Mithras ein. Im aserbeidschanischen Distrikt Shiz, der als der Geburtsort Zarathustras gilt, war der Haupttempel Anahita geweiht, welche von der sehr alten Gemeinschaft der Magier verehrt wurde. In anderen religiösen Schriften, nämlich den Yashts, personifiziert Anahita den mystischen, befreienden Strom des Lebens. Sie wurde als die Große Göttin verehrt, als die Himmelskönigin, deren Name schlicht und einfach "Dame" war, und wurde als die Große Kraft, die Unbefleckte, angesehen. Anahita wurde in einem großräumigen Gebiet, das ganz Persien und Anatolien einschloss, verehrt und der syrischen Göttin Anat gleichgestellt. An den Rändern des Kaukasus war ihr Name "Indola".

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Jesus- Sophia, russische Ikone

2. Sophia - die Muttergöttin im Alten Testament

Das orthodoxe Judentum der biblischen oder talmudischen Zeiten entwickelte ausschließlich das männlich-väterliche Bild Gottes. Dieses Konzept einer universellen, männlichen und gleichzeitig abstrakten Gottheit entwickelte sich schrittweise im Bewusstsein des Volkes und diente letztlich dazu, die gesamte Gesellschaft einem patriarchalischen Prinzip zu unterwerfen. Die moralischen und intellektuellen Aspekte des religiösen Lebens wurden in den Vordergrund gestellt und die Gefühlsseite bzw. emotionale Seite vernachlässigt. Das erklärt, warum der Judaismus dem Studium und der Einhaltung der Gesetze (Thora) bis heute mehr Bedeutung beimisst als der vom Herzen kommenden Verehrung Gottes.

Aber auch im Alten Testament wurde die Göttin nicht völlig vergessen. Im Buch der Weisheit Salomons und in dem Buch der Sprichwörter nimmt das Ewigweibliche unter der Bezeichnung "Hokhma" (oder "Sophia" d.h. die Weisheit in der griechischen Übersetzung) einen bedeutenden Platz ein. Sie ist die Kraft der Schöpfung. Sie ist auch die Große Göttin, welche die dämonischen Kräfte vernichtet und das Gute beschützt.

"Als tiefes Schweigen das All umfing und die Nacht bis zur Mitte gelangt war,
Da sprang dein allmächtiges Wort vom Himmel, vom königlichen Thron herab
Als harter Krieger mitten in das dem Verderben geweihte Land.
Es trug das scharfe Schwert deines unerbittlichen Befehls,
Trat hin und erfüllte alles mit Tod;
Es berührte den Himmel und stand auf der Erde."


Die Weisheit ist ewig, allgegenwärtig und das höchste Ziel der Verehrung:

"Alles Verborgene und alles Offenbare habe ich erkannt;
Denn es lehrte mich die Weisheit, die Meisterin aller Dinge.
In ihr ist ein Geist, gedankenvoll, heilig, einzigartig, mannigfaltig, zart, beweglich,
Durchdringend, unbefleckt, klar, unverletzlich, das Gute, liebend, scharf,
Nicht zu hemmen, wohltätig, menschenfreundlich,
Fest, sicher, ohne Sorge, alles vermögend, alles überwachend und alle Geister durchdringend,
Die denkenden, reinen und zartesten.
Denn die Weisheit ist beweglicher als alle Bewegung;
In ihrer Reinheit durchdringt und erfüllt sie alles.
Sie ist ein Hauch der Kraft Gottes
Und reiner Ausfluss der Herrlichkeit des Allherschers;
Darum fällt kein Schatten auf sie.
Sie ist der Widerschein des ewigen Lichts,
Der ungetrübte Spiegel von Gottes Kraft,
Das Bild seiner Vollkommenheit.
Sie ist nur eine und vermag doch alles;
Ohne sich zu verändern, erneuert sie alles.
Von Geschlecht zu Geschlecht tritt sie in heilige Seelen ein
Und Schafft Freunde Gottes und Propheten;
Denn Gott liebt nur den, der mit der Weisheit zusammenwohnt.
Sie ist schöner als die Sonne und überstrahlt jedes Sternbild.
Sie ist strahlender als das Licht; denn diesem folgt die Nacht,
Doch über die Weisheit siegt keine Schlechtigkeit.
Machtvoll entfaltet sie ihre Kraft von einem Ende zum andern
Und durchwaltet voll Güte das All."


Die Sophia gibt dem Gerechten die ewige Befreiung, indem sie ihn von der Sünde erlöst und seine eigene Göttlichkeit erkennen lässt.

"Einen Gerechten, der verkauft worden war, lässt sie nicht im Stich,
Sondern bewahrte ihn vor der Sünde.
Sie stieg mit ihm in den Kerker hinab
Und verließ ihn während seiner Gefangenschaft nicht,
Bis sie ihm das königliche Zepter brachte …
Und [sie] verlieh ihm ewigen Ruhm."

"Die Weisheit aber rettete ihre Diener aus jeglicher Mühsal.
Einen Gerechten, der vor dem Zorn des Bruders floh,
Geleitete sie auf geraden Wegen, zeigte ihm das Reich Gottes
Und enthüllte ihm heilige Geheimnisse."


Es ist die Weisheit, die Moses inspiriert und seine Wunder vollbringt:

"Sie hat ein heiliges Volk, ein untadeliges Geschlecht,
Aus der Gewalt einer Nation gerettet, die es unterdrückte.
Sie ging in die Seele eines Dieners des Herrn ein
Und widerstand schrecklichen Königen durch Zeichen und Wunder.
Sie gab den Heiligen den Lohn ihrer Mühen und geleitete sie auf wunderbarem Weg.
Sie wurde ihnen am Tag zum Schutz und in der Nacht zum Sternenlicht.
Sie führte sie durch das Rote Meer und geleitete sie durch gewaltige Wasser.
Ihre Feinde aber ließ sie in der Flut ertrinken."


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Gottvater und Sophia, Michelangelo, Sixtinische Kapelle

Philon von Alexandrien, der große jüdische Mystiker griechischer Abstammung im ersten Jahrhundert christlicher Zeitrechnung war einer der ersten, der die Sophia mit dem Archetypus der weiblichen und mütterlichen Göttlichkeit in Zusammenhang brachte: "So werden wir den Meister, welcher unser Weltall erschaffen hat, mit Recht zugleich auch als Vater des Erschaffenen bezeichnen, als Mutter aber das Wissen [‘Episteme‘, bei Philo identisch mit Sophia] des Erzeugers." Trotzdem wurden Sophia weder im Judentum noch im Christentum ein Kult oder eine besondere Verehrung gewidmet. Es blieb Michelangelo vorbehalten, in einem Fresko in der Sixtinischen Kapelle die Weisheit beim Schöpfungsakt an der Seite von Gottvater darzustellen.

In den Anfängen des Christentums war die Bedeutung von Sophia als Weisheit, der Gegenstand vieler Kontroversen. Im zweiten Jahrhundert entwickelten die Gnostiker komplexe Mythologien der Sophia, aber diese wurden von den Hauptströmungen der Kirche abgelehnt. Die meisten frühen christlichen Autoren folgten Philo von Alexandrien und setzten Sophia mit dem Logos gleich und im Sinne des Neuen Testamentes mit dem Göttlichen in Jesus Christus. In der Folge verschwand das antike Verständnis von Sophia als einer Manifestation des Göttlichen Weiblichen für fast tausend Jahre, auch wenn neuzeitliche Gelehrte das Thema der Weisheit in den Visionen einer Reihe von Mystikern aufspürten: in den Schriften des römischen Philosoph des sechsten Jahrhunderts Boethius; in den außergewöhnlichen Visionen der deutschen Nonne Hildegard of Bingen (1098-1179), ein Echo der Visionen des Boethius, in den Visionen von Nizam des spanischen Sufi Ibn al-Arabi (1165-1240) und des italienischen Dichters Dante Alighieri (1265-1321) und seiner Muse Beatrice in der Göttlichen Komödie.

Insbesondere jedoch in den Schriften des deutschen Philosophen und protestantischen Mystikers Jakob Boehme (1575-1624) finden sich die Anfänge eines modernen Verständnisses von Sophia. Boehme bezog sich auf frühere jüdisch-kabbalistische und hermetisch-mystische Traditionen und schöpfte aus seiner eigenen Kontemplation und Introspektion, durch die er eine einzigartige und komplexe theologische Synthese entwickelte. Seine Bilder von Sophia stellen sie als die ewige Reflexion des Göttlichen dar, und erinnern wiederum an die Vorstellung der jüdischen Shekhinah, die Gegenwart Göttes in der kabbalistischen Tradition. Seine Vorstellung von den sieben "Quellgeistern", die das materielle Gegenstück zur Jungfrau Sophia darstellen, findet auch Parallelen in den Ideen seines Vorläufers, dem Alchemisten Paracelsus (1490-1541).

Im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert finden sich die Spuren der Sophia in den Schriften der Mystiker John Pordage (1607-1683) und der Jane Lead (1623-1704), bei den Theologen und Mystikern Johann Georg Gichtel (1638-1710) and Gottfried Arnold (1666-1714), die sich auf den Einfluss Jakob Boehmes zurückführen lassen. Deren Zeitgenossen und spätere Gelehrte nahmen an, dass sie Schüler oder Anhänger Boehmes waren. Dies könnte aber auch auf einem Missverständnis beruhen. Vielmehr kann man diese Mystiker auch als 'verwandte Seelen' verstehen, deren Einsichten und Erkenntnisse ungeachtet aller Ähnlichkeit dennoch auf deren ureigener individueller Einsicht und Kontemplation beruhten. Der amerikanische Historiker Arthur Versluis beschrieb diese Tradition in Folge Boehmes als die protestantische theosophische Tradition (welche allerdings nicht mit der Theosophischen Gesellschaft des späten neunzehnten Jahrhunderts zu verwechseln ist.)

Im späten achtzehnten Jahrhundert beeinflusste Sophia in der theosophischen Tradition Boehmes weiterhin Philosophen und Theologen. In den 1780er- Jahren lernte der französische Philosoph Louis-Claude de Saint-Martin (1743-1803) das Werk Boehmes kennen, was sich an Saint-Martins späteren Werken, insbesondere in
Le Ministere de l’Homme-esprit (1802) zeigt. In Deutschland fand die Boehmesche Vorstellung der Sophia als Göttliche Weisheit gemeinsam mit christlich-kabbalistischen Ideen und den Anfängen der Naturphilosophie in den Werken Friedrich Christoph Oetingers (1702-1782) Ausdruck und in den Werken der deutschen Romantiker Novalis und Hölderlin. Der schweizer Visionär Johann Jacob Wirz (1778-1858) hatte 1823 Visionen von Sophia als göttliche Weisheit welche die Grundlagen der Gemeinschaft der Nazarener bildeten. Wirzes posthum veröffentlichte Schriften und dessen Geschichten und Parabeln wurden mit den visionären Schriften der Sufis verglichen. Der russische Philosoph Vladimir Soloviev (1853-1900) und dessen Visionen der Sophia, die Bilder und Schriften des russischen Künstlers Nicholas Roerich setzen die Tradition der Sophia bis ins zwanzigste Jahrhundert fort.

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Sophia und ihre Töchter, Glaube, Hoffnung, Liebe, russische Ikone

3. Shekhina
- die Göttin in der jüdischen Mystik

Angesichts dieser offensichtlichen Beschränkung des Göttlichen auf seinen männlichen Aspekt entwickelten die jüdischen Mystiker einen weiblichen Gegenpart zu Yahwe und die Shekhina nimmt einen bedeutenden Platz in der hebräischen Mystik ein. Sie tritt zum ersten Mal in einer aramäischen Erläuterung des Alten Testaments auf, dem Targum Omkelos, das aus den Anfangszeiten der christlichen Ära stammen soll, dessen Quellen aber sicherlich viel älter sind.

Das Targum Omkelos erweitert den biblischen Text, indem es jede Manifestation der Gegenwart Gottes als "Shekhina" bezeichnet. Hier ist es nicht mehr Yahwe, der in seiner Schöpfung allgegenwärtig ist, sondern Gott der Vater wirkt im Kosmos durch die von ihm gesandte Shekhina. So wird die Textstelle: "Ich wohne unter den Kindern Israels." zu: "Ich schicke meine Gegenwart, um bei den Kindern Israels zu wohnen." Diese Interpretation dürfte ihren Ursprung in der mündlichen Überlieferung der Lehren Mose haben.

In der jüdischen Mystik wurde der Begriff der "Shekhina" bis zum 16. Jahrhundert n. Chr. entwickelt. Vor allem in der Kabbala gibt es zahlreiche Beschreibungen, die sie in allen Punkten an den Archetypus des Ewigweiblichen annähern. Die Shekhina ist die authentische weibliche Gottheit, die auf ewig jungfräulich ist. Sie steht jenseits der verschiedenen Begriffe wie Weisheit oder Güte. Das Judentum spricht von den "Flügeln der Shekhina", unter denen ihre Anhänger Zuflucht und Schutz finden, vom "Gesicht der Shekhina", dem Objekt der Bewunderung und von den "Füßen der Shekhina", die das Böse und alle negativen Kräfte in Grund und Boden stampfen. Darüber hinaus verfügt die Shekhina über eine eigene Persönlichkeit, über einen eigenen Willen, der sich sogar dem Willen des Gottvaters widersetzen und diesen beeinflussen kann. Wie die Sophia wird auch sie als die seit dem Beginn der Schöpfung wirkende Urkraft Gottes bezeichnet:

"Als es in Gottes Gedanken aufstieg, eine Welt zu erschaffen, da schuf er als erste aller Schöpfungen den Heiligen Geist, der auch die Glorie unseres Gottes heißt. Dies ist ein strahlender Glanz und ein großes Licht, das auf alle seine anderen Kreaturen ausstrahlt. … Und die Weisen nennen dieses große Licht Schechina [sic!]."

Der wichtigste mystische Aspekt der Shekhina, oder "Schechina", ist ihre erlösende Kraft, die zur spirituellen Befreiung des Menschen führt: "Die Merkaba-Welt [d.h. die himmlische Welt, das Paradies] ist der Ort seiner [Gottes] vor den Menschen verborgenen Shekhina in der höchsten Höhe. Statt vom ‘Thron der Herrlichkeit‘ wie es im Talmud heißt, wird in diesen Schriften vom ‘Thron der Schechina‘ gesprochen. Die verborgene Schechina ist es eben, die in der höchsten Vision den Eingeweihten dort erscheint." Wie der Heilige Geist in den gnostischen Texten, gilt auch die Shekhina das essentielle weibliche Element des "Hieros gamos" (griechisch: heilige Ehe). Im Zohar nennt sich die Shekhina "Mutter", wenn sie sich im Zustand der Vereinigung mit Gottvater befindet, im Zustand der Trennung bezeichnet sie sich hingegen als "Gattin": "Solange sie im Hause des Königs wohnte, hieß sie ‘Mutter‘, insofern sie ihre Kinder im ungehemmten Strom der Emanation von oben ernährte, aber jetzt, das sie im Exil ist, heißt sie nur noch die ‘Frau deines Vaters‘."

Rabbi Shemuel bar Nahman schrieb im dritten Jahrhundert, dass die Qualität des Vaters seinen Kindern gegenüber die Barmherzigkeit sei, jene der Mutter die Unterstützung, die Stärkung und der Trost. Und er fügte hinzu: "Gott hat gesagt: Ich werde es wie ein Vater und wie eine Mutter machen."

Die Shekhina repräsentiert den mütterlichen Aspekt des Göttlichen. Sie stellt außerdem, wie es das Bild der Sophia in der Bibel oder der Großen Göttin in den indischen Schriften nahe legen, die strafende Kraft Gottes dar. Diesem Aspekt kam im Mittelalter große Bedeutung zu, als die Shekhina mit dem Erscheinen der Kabbala eine zentrale Rolle im religiösen Bewusstsein der Juden einnahm. Tatsächlich aber hatte die Shekhina die Attribute der Astarte, der Muttergöttin des Altertums, übernommen.

Übersetzt und adaptiert nach Gwenael Verez, The Search for the Divine Mother, 1997 und John Noyce Sophia von S.J.